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Kurzgeschichten

Gegen alle Vernunft

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„Was ist nur mit dir los?“, schreie ich meinem Spiegelbild entgegen – immer und immer wieder -, während ich die Finger in meiner bauchlangen, schwarzen Mähne vergrabe und daran ziehe. Durch den Schmerz entlädt sich mein Frust etwas. „Du bist krank – nicht normal – völlig irre!“ Nach einem letzten stechenden Blick aus meinen hellgrünen Katzenaugen, drehe ich mich weg. Ich kann mein Puppengesicht, das mir in den letzten Jahren nur Probleme mit Kerlen bereitet hat, einfach nicht mehr sehen. „Verdammt! Ich bin so blöd!“

Plötzlich klopft jemand an die Tür. „Ist alles in Ordnung mit dir, Cat?“, ruft mein Cousin besorgt, was mein Herz, das vorhin noch geschmerzt hat, zusätzlich verkrampfen lässt und meine Wut weiter anheizt.

Mister Ich-bin-so-sexy-und-kann-alle-haben hat mir gerade noch gefehlt! Wieso muss auch jede auf ihn stehen? Das gefällt ihm sicher! Sogar seine Cousine hechelt ihm hinterher – wie traurig – peinlich – wie ... Oh, wieso kann ich mich nicht in jemand anderes verlieben?

Früher verstanden wir uns gut. Er war wie mein großer Bruder, der mich vor den Raudies auf dem Schulhof beschützte, weil ich die Kleinste war und immer geärgert wurde.

Als Kinder sind wir über Irlands grüne Wiesen getollt, fingen an sonnigen Sommertagen Schmetterlinge und in lauen Abendstunden Glühwürmchen, gingen angeln und suchten vergebens, den Topf voll Gold am Ende des Regenbogens.

Als Teenager gingen wir auf die Piste, teilten unsere ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht, lernten gemeinsam für die Schule und taten alles, was beste Freunde eben miteinander tun. Alles war wunderbar, bis vor ein paar Monaten etwas geschah, was alles zwischen uns veränderte, auf den Kopf stellte und kaputt machte: Wir wollten angeln und balancierten auf dem umgestürzten Baumstamm zur kleinen Insel auf unserem Lieblieblingssee. Ich ging voraus. Als ich mich zu ihm umdrehte, um ihn zu fragen, ob er an die Köder gedacht hatte, rutschte ich aus. Shannon fing mich auf und presste mich an sich. Zufällig berührten sich unsere Lippen. Obwohl es nur für den Bruchteil einer Sekunde geschah und nicht beabsichtigt war, schlug mein Herz auf einmal ganz komisch: Es setze aus und holperte, als hätte es vergessen, wie es mein Blut durch meinen Körper pumpen soll. Mir wurde warm und kalt, dann ganz schwach. Gott sei Dank hielt er mich fest, sonst wäre ich in den See gefallen.

Ich erholte mich schnell und wir konnten in Ruhe den Wurm baden. Trotzdem hatte sich meine Sichtweise auf ihn, das Verhalten meines Körpers auf seine Nähe für immer verändert. Ständig musste ich an ihn denken, mir wünschen, dass er mich wieder festhalten, mich küssen würde – nicht nur aus Versehen, sondern weil er es will. Als ich dann auch noch eifersüchtig auf seine Freundin wurde, war mir klar, dass ich mich in ihn verliebt hatte. Wahrscheinlich liebt er mich auch, nur nicht so, wie ich es mir wünsche. Abgesehen davon, dass ich vor mir selber ausspucken könnte, weil ich so für meinen Cousin empfinde, schäme ich mich auch. Deshalb ich habe mir geschworen, meine Gefühle zu verheimlichen, was mir von Tag zu Tag schwerer fällt.

Wieder klopft er, dieses Mal fester. „Jetzt komm schon! Ich muss wissen, ob‘s dir gut geht!“

Hätte es nicht Dad sein können, der nach mit sieht? Nein, natürlich nicht, weil ich so viel Glück nicht habe! Soll Shannon doch zu seiner bescheuerten Tussi gehen! Sie vermisst ihn sicher schon, diese blöde Kuh!

Rasend vor Wut schlage ich auf meine Oberschenkel und trete gegen den Wäschekorb, der im schmalen, langen Bad mir gegenübersteht.

„Lass mich in Frieden“, drücke ich durch die Zähne. Ich habe einfach keine Lust, mit ihm zu reden. Demonstrativ verschränke ich die Arme.

„Hast du mich nicht verstanden?“, brüllt er zurück. „Ich will wissen, ob‘s dir gut geht!“

Und ich will, dass du einen Drachen steigen lässt! Also schnapp dir deinen, der im Wohnzimmer auf dich wartet, und mach ‘ne Fliege!

„Entweder du antwortest mir oder ich trete die verfluchte Tür ein!“

Du kannst mich mal! Außerdem traust du dich das sowieso nicht!

„Na schön, du willst es ja nicht anders!“​

„Warte“, rufe ich panisch.

„Ach ja? Und was sollte das eben?“

Boah, der nervt voll! Wieso kann er nicht einfach Ruhe geben und verschwinden?

„Ich will nicht drüber reden!“

„Wir werden drüber reden, ob’s dir passt oder nicht! Jetzt mach die Tür auf!“ Da ich nicht reagiere hämmert er wieder dagegen. „Du sollst mir aufmachen! Das ist keine Bitte, sondern ein Befehl! Hörst du, Katherina?“

Jetzt weiß ich, dass die Kacke mehr als gewöhnlich am Dampfen ist, denn er hat mich nicht bei meinem Spitznamen genannt, deshalb kommt meine nächste Abfuhr etwas verhaltener, wenn auch nicht viel:„Nein!“

„Ich hab’s satt, zu betteln! Lass mich rein oder ich hau das Brett weg; letzte Warnung!“

„Von mir aus, aber nur kurz!“ Mit den Zähnen knirschend und den Augen rollend, stampfe ich zur Tür, die ich aufschließe. „Du hast eine Minute, mehr nicht!“ Ich habe gerade mal Zeit, um einen Schritt zurückzumachen, da stürmt er auch schon rein, packt mich grob an den Oberarmen, drängt mich rückwärts, tritt die Tür hinter sich zu und schiebt mich gegen die Wand.

„Lass mich los, du Irrer!“ Den Versuch, ihn wegzudrücken, hätte ich mir sparen können; er ist viel stärker als ich halbes Hemd.

„Das kannst du knicken, Süße! Jetzt sag mir, was das eben sollte!“

Ich höre auf, mich zu wehren – es hat ja eh keinen Sinn. Meine Hände lasse ich auf seiner Brust liegen. „Ich mache, was ich will! Und nenn mich nicht Süße!“

Seine Muskeln zucken - seine tiefblauen Augen wollen in meine Seele schauen - seine vollen Lippen sind leicht geöffnet – sein süßer, schwerer Atem braust heiß gegen mein Gesicht. Durch seine wild gestylte hellblonde Mähne wirkt er noch bedrohlicher, leider auch anziehender. Wie gerne ich darin meine Finger versenken will, verdränge ich, genauso wie das Verlangen, meine Lippen auf seine zu pressen und ihn endlich zu schmecken.

Eigentlich will ich ihn anschreien, aber mein Herz verrät mich, drückt meine Lider auf Luke, wie auch meine Stimme zu einen schweren Hauch: „So kannst du nicht mit mir umgehen!“

Wiedererwartend schließt er die Augen und atmet mehrmals durch, was mich überrascht, denn ich habe mit einer gehörigen Standpauke gerechnet. Plötzlich wird mir seine Nähe bewusst, was meine Knie aufweicht, wie auch die Mauer, die ich um meine Gefühle gebaut habe. Dass ich heimlich in seinem herrlichen Duft schwelge, der ganz er ist und mich beinahe high macht, hilft ebenfalls nicht, meine harte Schale aufrechtzuerhalten. Ein Schauder nach dem anderen jagt über meinen Körper. Gott sei Dank kann ich es gerade noch verhindern, aufzustöhnen, indem ich den Atem anhalte.

Wieso macht er das immer mit mir? Verflucht! Er darf auf keinen Fall merken, dass ich ihn liebe!

Ein letztes Mal bläht er seine Lungen ganz tief auf, dann schnauft er geräuschvoll aus, was wie ein Seufzen klingt. Nacheinander gibt er meine Oberarme frei, legt die Hände neben meinen Kopf auf die Wand und fragt schwer von Gefühlen: „Wieso hast du dich eben so mies aufgeführt?“

„Ich ... ähm ... ich ...“ Nachdem ich mich geräuspert habe, gebe ich mir eine mentale Ohrfeige: Schwer schluckend erkläre ich leise: „Ich kann sie nicht leiden.“

„Was hat sie dir denn getan?“

Weil er für sie in die Bresche springt, kann ich die Mauer um meine Gefühle wieder etwas durch Wut stärken, die aber nicht mehr ganz so dicht hält. „Ich hab eine bessere Frage für dich: Wieso bist du hier, wenn du sie so liebst?“ Ich klinge als wollte ich vor ihm ausspucken, weshalb er sein Gesicht verzieht.

„Kein Mensch hat hier was von Liebe gesagt“, erwidert er rau. „Also, nochmal, was hat Scarlett dir getan?“

Ich bin wirklich froh, dass er sie erwähnt, denn nur die unbegründete Wut auf sie, ermöglicht es mir, weitestgehend zu ignorieren, dass seine Lippen meinen so nah sind, die Wärme seines Körpers, die von ihm ausstrahlt. Dadurch kann ich keinen klaren Gedanken fassen und bleibe ihm die Antwort schuldig. Erneut muss ich schwer schlucken, was er mir gleichtut.

„Nun, ich höre“, fordert er mich mit schwerer dunkler Stimme auf, während er mir tief in die Augen schaut, doch er gibt mir keine Zeit etwas zu erwidern. Mit jedem seiner Worte kommen seine Lippen näher, bis sie dicht über meinen schweben: „Wer hat was von Liebe gesagt?“

„Ich ...“ In diesem Moment passiert es, er küsst mich und löst den Ausnahmezustand in mir aus. Tausend Schmetterlinge flattern in meinem Bauch umher, deren Flügel mich seltsamerweise anzuheben scheinen, denn es fühlt sich an, als würde ich schweben. Shannon spürt es wohl, denn er schiebt seine Hände zwischen meinen Rücken und die Wand und presst mich fest an sich. Endlich kann ich meine Finger in seinen Haaren vergraben. Ein Stöhnen öffnet seinen Mund, worauf seine Zunge mit etwas Gewalt meine Lippen aufdrückt und meine zu einem wilden Tanz auffordert.

Jetzt verliere ich mich völlig in den Sensationen. Sein herrlicher Geschmack überreizt meine Geschmacksnerven, seine Aura umhüllt mich und jagt einen Schauder nach dem anderen über meinen Körper. Alles an mir kribbelt, als hätten sich die Schmetterlinge von meinem Bauch in meinen Körper ausgebreitet. In meinem Kopf wirbeln unzählige Gefühle umher, wie ein kleiner Tornado, der mich schwindlig macht:

Ich bin glücklich, weil mein größter Wunsch sich endlich erfüllt – traurig, weil ich meinen besten Freund, meinen Cousin, für immer verloren habe – erregt, weil ich nicht weiß, wie weit er gehen wird und mir trotzdem wünsche, dass er das, was er begonnen hat, zu Ende führt - nervös, weil ich noch nie so viel für einen anderen Menschen empfunden habe – schuldig und enttäuscht von mir, weil ich mich nicht besser unter Kontrolle hatte – voller Liebe, die sich richtig und gleichzeitig falsch anfühlt – ängstlich, weil ich nicht weiß, wohin dies führen wird, und dieser Kuss vorherbestimmt zu sein scheint, was er nicht sein darf. Das stärkste Gefühl, das die anderen antreibt, ist jedoch Scham, weil das, was wir hier tun, wohl kaum jemand gut finden wird, auch wenn es nicht gesetzlich verboten ist.

Am liebsten würde ich mich in ihn hineindrücken lassen. Ich ziehe an einigen Haarsträhnen. Gleichzeitig gleitet eine seiner Hände auf meine Po-Backe, die er massiert. Er reibt seine Erektion an meinem Bauch. Mittlerweile stöhnen wir um die Wette, gedämpft von unseren verschmelzenden Mündern.

Wiedererwartend beendet er den Kuss, was mich fast wahnsinnig vor ungestillter Begierde macht. Er hält mich weiterhin fest, damit ich nicht wegsacke. Mit geschlossenen Augen steht er da – so dicht vor mir und doch scheint er weit weg zu sein. Anscheinend versucht er, nicht nur zu Atem zu kommen, sondern sich zu beruhigen. Leider sehen das mein Körper und mein Herz anders.

Ich will ihn! Es ist mir egal, was andere denken! In die Hölle komme ich sowieso, nachdem, was wir getan haben!

Ich ziehe die Finger aus seinen Haaren, drücke mich von ihm weg, gegen die Wand, und beginne mit zittrigen Fingern sein Hemd aufzuknöpfen.

„Nicht!“ Er nimmt meine Hände und hält sie fest. Sein stählerner Blick trifft mich, der keinen Widerspruch duldet. „Das war falsch! Und es wird nie mehr passieren!“ Ich will ihm widersprechen, obwohl ich weiß, dass er recht hat, aber der Gedanke, ihn nie wieder so zu spüren, tut zu weh. „Du bist besser still! Es war meine Schuld! Wir sind verwandt! Damit hat sich das Thema erledigt!“

Der Schmerz, der in seinen Augen und auf seinem Gesicht aufblitzt, bevor er sich wegdreht und aus dem Zimmer stampft, habe ich mir sicher nur eingebildet. Vielleicht habe ich auch nur das gesehen, was ich sehen wollte, da mein Herz bricht. Ich rutsche an der Wand nach unten, lege die Arme auf die Knie und fange an zu schluchzen.

Ich weiß nicht, wie es weitergehen, wie ich ihm jemals wieder gegenübertreten soll. Ein Leben ohne ihn kenne ich nicht, trotzdem werde ich mich daran gewöhnen müssen, denn ich entschließe mich, zu meiner Tante nach London zu gehen, um ihn zu vergessen.Was immer auch passieren wird, ich werde ihn immer lieben, auch wenn wir uns nie gehören dürfen.

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